Von Christoph Kellermann.
Oer-Erkenschwick. 2020 – für das junikum irgendwie ein Jahr der Verabschiedungen. Zunächst wurden im Juni die letzten beiden Ordensschwestern der Einrichtung, die Schwestern Lucie und Gerlinde, in den wohlverdienten Ruhestand geleitet, dann nahm mit Andreas Reckels eine weitere echte Institution der Gesellschaft für Jugendhilfe und Familien in Oer-Erkenschwick den viel zitierten »Hut«. „Nach zwanzig wertschätzenden und erfolgreichen Jahren“, wie der in Köln beheimatete Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche betont und eigentlich satte 18 Jahre später, als ursprünglich angedacht, wurde der heute 61-Jährige vom Geschäftsführer des junikum, Thomas Kurth, im Jahre 2000 doch eigentlich nur für zwei Jahre als Berater des Kinderheim St. Agnes angeheuert.
Die Chemie stimmte auf Anhieb…
Nun blicken beide Parteien auf zwanzig Jahre der fruchtbaren Zusammenarbeit zurück. Thomas Kurth und Andreas Reckels hingegen kennen und schätzen sich sogar noch sehr viel länger. „Thomas Kurth und ich kennen uns bereits seit 1985, also 35 Jahre! Seiner Zeit absolvierte ich im »Bernardshof Mayen«, einer Jugendhilfeeinrichtung in Rheinland-Pfalz, das so genannte »Anerkennungsjahr als Diplom-Heilpädagoge«. Thomas und ich arbeiteten dort quasi Tür an Tür. Die Chemie zwischen uns stimmte auf Anhieb und wir hatten viele gute und konstruktive Gespräche“, weiß Reckels zu berichten.
Workshop stellte die Weichen
Nach einem von ihm im Jahre 1999 geleiteten Workshop im Rahmen eines Fachtages der Katholischen Fachhochschule Köln machte Thomas Kurth Nägel mit Köpfen und holte Reckels als Berater ins junikum, wo sich dieser fortan als »Supervisor« vornehmlich um die Entwicklung und Integration eines familienorientierten und systemischen Verständnis- und Beratungsansatzes in die pädagogische Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und deren Familien auf ambulanter und stationärer Ebene kümmerte und die Beratung des Leitungsteams zur institutionellen und inhaltlich-fachlichen Weiterentwicklung des Kinderheims St. Agnes, sprich: des junikum, übernahm. Damit verbunden war auch die Fortbildung der Mitarbeitenden in systemischem Denken und Handeln sowie im Umgang mit pädagogischen Situationen, in denen sich Fragen zum Kindeswohl stellen, wie »Hilfe- und dialogorientierter Kinderschutz«. Nicht zuletzt standen zwei Jahrzehnte lang Entwicklung und Integration eines systematischen Vorgehens für ein »diagnostisches Fallverstehen« bei Reckels auf der Tagesordnung.
„Jede Jeck ess anders!“
Reckels Arbeit im junikum zeichnete stets aus, den Einsatz und die Qualitäten jeden einzelnen Mitarbeitenden im Blick zu haben und zu stärken. „Jede Jeck ess anders“, betont der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut und systemische Therapeut, der weiß, dass ein Team gerade von der Unterschiedlichkeit eines jeden Mitarbeitenden profitiert.
„Jeder bringt persönliche Kompetenzen, Ressourcen und ein individuelles Erfahrungswissen in die Arbeit ein. Das gilt es wertzuschätzen. Es können nicht alle »gleich gut« sein“, so Reckels. Hierbei bedient er sich gern des griechischen Philosophen Aristoteles: »Das Ganze ist mehr, als die Summe seiner Teile!« Für Reckels ein Hinweis darauf, dass es für alle Beteiligten von Vorteil ist, wenn sich die einzelnen Mitarbeitenden selbst gut kennen, beispielsweise im Hinblick auf ihre inneren Haltungen und Werte, ihre Fertigkeiten und Ressourcen, aber ebenso bezüglich ihrer Schwächen und Unsicherheiten oder hinsichtlich möglicher Gefühle von Unzulänglichkeit.
„Personen in einem System oder einem Team, die füreinander in Beziehung und zueinander in Wechselbeziehung stehen, werden sich gegenseitig fördern und haben einen hohen Wirkungsgrad, wenn die jeweiligen persönlichen Kompetenzen in einem stimmigen Verhältnis zueinander handeln.“ Als Vergleich zieht er hier gern die berühmten »Bremer Stadtmusikanten« heran. „Ausgangspunkt meines eigenen Handelns war es daher immer, den einzelnen Mitarbeitenden in seinen Handlungen und mit seinen Gefühlen zu verstehen!“
Zahlreiche Stellschrauben
An welchen Stellschrauben konnte Andreas Reckels im Rahmen seines Engagements in Oer-Erkenschwick demnach am nachhaltigsten drehen? „Als ich vor 20 Jahren meine Beratungstätigkeit im junikum aufnahm, traf ich auf ein engagiertes und erfahrenes Leitungsteam. Die Analyse der damals durchgeführten Standortbestimmung zeigte unter anderem, dass es in St. Agnes eine starke Fokussierung der Arbeit auf die »Beziehung zwischen Kindern und Pädagogen« gab. Es lag ein reichhaltiges Repertoire und Wissen im pädagogischen Umgang mit Kindern und Jugendlichen vor, die in ihren Familien Vernachlässigung und/oder Gewalt erlebt hatten und die ihre unsicheren oder desorganisierten Bindungsmuster in der Beziehung zu den Pädagoginnen und Pädagogen wiederholten.“
Es wurde deutlich: der professionelle Umgang mit traumatisierten Kindern stellte meist eine enorme emotionale Herausforderung dar, weil die Betreuer einerseits die Kränkungen der Kinder verstehen wollten, sie aber andererseits oft mit heftigen, gefühlsmäßig aufgeladenen Wiederholungsszenen, so genannten »Übertragungen«, konfrontiert wurden, die bei ihnen selbst Gefühle von Wut, Ohnmacht oder Mitleid hinterließen. Reckels‘ vorrangigstes Anliegen war es also, durch Supervision und Beratung die »Übertragungsbeziehungen« besser zu verstehen. „Denn »Verstehen« könne als ein Vorgang bezeichnet werden, der einem Verhalten und einem Erleben Sinn verleiht“, so Reckels, dem es primär darum ging, solche Entwicklungen im pädagogischen Handeln voranzubringen, die für Kinder und Jugendliche mit emotional bedeutsamen und förderlichen Unterschiedserfahrungen einhergehen.
Ein weiteres wichtiges Entwicklungsziel war es, für die Kinder und Jugendlichen ein pädagogisches Klima zu gestalten, ohne die Bindung an deren Zuhause zu unterbrechen, schließlich bedeutet das »Fremdunterbringen« in nahezu allen Fällen Risiko und Chance zugleich. „Zur Chance wird Heimerziehung immer dann, wenn Familien und Eltern aktiv in den Hilfeprozess einbezogen werden. Elternarbeit im Heim stellt in der Regel die richtigen Weichen“, spricht Reckels aus Erfahrung. Eltern, Geschwistern, Großeltern und ihren Geschichten, wurden daher zunehmend mehr Gewicht in Bezug auf ihre zentrale sozial- emotionale Bedeutung (Bindung) und Entwicklung für das Kind zugewiesen und zu wichtigen Kooperationspartnern im Hilfeprozess. In diesem Zusammenhang entschied dann auch das Leitungsteam des junikums zwei zusätzliche Fachkräfte einzustellen, die fortan ausschließlich für »Familienberatung« zuständig waren. Auch die Etablierung so genannter »Fallsupervisionen« veränderten das Selbstverständnis der Pädagoginnen und Pädagogen im junikum, die sich fortan nicht mehr »nur« auf die Beziehung zwischen »Pädagoge und Kind« fokussierten, sondern auf das Dreieck »Kind-Eltern-Pädagoge«.
»Jugendhilfe wirkt nur als Ganzes positiv«
Zudem war es Reckels immer wieder wichtig, auf den größeren Zusammenhang (Kontext) zu verweisen, in dem gedacht, gehandelt und entschieden wird, denn: »Jugendhilfe wirkt nur als Ganzes positiv« (Schrapper, 2002). Dies bedeutete, nicht nur die Mitarbeitenden des junikum, sondern auch und vor allem ambulante Hilfen, Ärzte sowie die Vertreterinnen und Vertreter von Jugendämtern (ASD, Vormundschaften, etc.) und Schulen, zu den Fallsupervisionen ins junikum einzuladen, um gemeinsam zu einem umfassenden diagnostischen Fallverstehen zu gelangen und somit potentiell den Wirkungsgrad der Hilfen zu erhöhen.
„Wenn das Wohl von Kindern in Frage steht, sie möglicherweise gefährdet sind, dann müssen Fachkräfte der Jugendhilfe in der Lage sein, Gefährdungssituationen von Kindern zu erkennen, angemessen einzuschätzen und zuverlässig abzuwenden. Solche Lagen sind für Fachkräfte mit enormen, auch verunsichernden, Herausforderungen verbunden“, so Reckels. Kindeswohlgefährdung, die sich innerhalb der Familie eines Kindes entwickelt, spiegele einen Beziehungskonflikt und verdeutliche, dass Eltern und Kinder in und an ihrer Lebenswelt scheitern. Die Aufgabe »Das Kindeswohl sichern« stellte einen weiteren »zentralen Baustein« im Rahmen der Beratung und der fachlichen Entwicklung dar. Ein wirksamer Kinderschutz sollte dialogorientiert gestaltet sein, was bedeutet, alle wichtigen Personen, wie das Kind und dessen Eltern, dabei aktiv einzubeziehen. Denn: Kinderschutz ist Beziehungsarbeit! Das familienorientierte Konzept »Hilfe statt Strafe«, setzt sowohl auf Kontrolle, als auch auf die Nutzung familiärer Veränderungsressourcen und nimmt die Lösungsideen der Betroffenen ernst. Um dieser Facette der Arbeit zukünftig besser Rechnung tragen zu können, wurde eine umfangreiche Fortbildung mit allen pädagogischen Mitarbeitenden durchgeführt, um die Wahrnehmung für etwaige Gefährdungslagen zu schärfen und damit einen sichereren Umgang zu gestalten.
„Fachliche Arbeit auf sehr hohem Niveau!“
Dass im junikum eine enorme Entfaltung stattfinden konnte, ist auch dem unglaublichen Engagement sowie der beeindruckenden Expertise von Andreas Reckels zu verdanken. „Aus dem »kleinen« Kinderheim St. Agnes, wie ich es zu Beginn kennen lernte, hat sich ein moderner und großer Kinder- und Jugendhilfe-Träger, das junikum, entwickelt. Das junikum hält inzwischen einen großen Teil der Hilfen vor, die das Kinder- und Jugendhilfegesetz vorsieht. Man arbeitet fachlich auf einem sehr hohen Niveau. Das ist möglich, weil die Mitarbeitenden zu ständiger Reflexion und Infragestellung bereit sind und aus möglichen Fehlern lernen“, so Reckels. Dies alles ermöglicht auch und vor allem die Qualitätssicherung nach innen und außen durch zuverlässige Kooperation.
Was aber hat sich bei Andreas Reckels besonders ins Gedächtnis eingebrannt? „Das durchgängige Wohlwollen sowie der Respekt, der mir entgegengebracht wurde. Dafür möchte ich mich sehr herzlich bei allen Menschen bedanken, die ich vor Ort in den letzten zwanzig Jahren kennen lernen durfte…“ Das junikum ist für Andreas Reckels nun Geschichte. Überhaupt hat er seine Beratungs- und Lehrtätigkeit in Institutionen beendet. Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und deren Familien wird er in seiner psychotherapeutischen Praxis in Köln aber auch in Zukunft eine Hilfe sein.