Was macht das junikum heute, um Gewalt zu verhindern?
(von Regine Klein, Stimbergzeitung, 13.07.2023)
Die Geschichte des Kinderheims St. Agnes wird bis in die 1980er-Jahre überschattet von Übergriffen und Gewalt, sowohl seelischer, körperlicher und sexueller Art. Damit reiht sich das Heim in die Liste der kirchlichen Einrichtungen ein, die in den vergangenen Jahren ebenfalls wegen Missbrauchsfällen in die Schlagzeilen gerieten. Später wurde aus dem Kinderheim St. Agnes der Jugendhilfeträger »junikum« mit neuem Konzept. Mittlerweile sind die Verantwortlichen in Oer-Erkenschwick und Münster an die Öffentlichkeit gegangen (wir berichteten), um die Gewalt an Kindern und Jugendlichen im ehemaligen Kinderheim St. Agnes aufzuarbeiten. Doch was macht die Jugendeinrichtung heute, um Gewalt und Missbrauch zu verhindern?
„Das ist zu kurz gedacht!“
„Wir legen Wert auf eine hohe Achtsamkeit, aber es könnte jeden Tag passieren“, sagt Britta Kleine, die gemeinsam mit Mathias Haase, im junikum dafür Sorge trägt, dass Schutzkonzepte eingehalten werden. Beide sind Bereichtsleitung Pädagogik und Präventionsfachkräfte. Ein wichtiger Baustein: Eine freiwillige Selbstverpflichtung mit Handlungsleitlinien, die auf den Dienst bzw. die Einrichtung zugeschnitten und in einem Schutzkonzept zusammengefasst sind und worauf alle Mitarbeiter geschult werden. Dieses basiert auf der Präventionsordnung des Bistums Münster sowie der »Arbeitshilfe zum grenzachtenden Umgang, für eine gewaltfreie Erziehung, Betreuung und Beratung und zum sicheren Umgang bei Fehlverhalten« der Arbeitsgemeinschaft der Erziehungshilfen (AGE) im Bistum Münster und ist seit 2014 in Kraft. Dass allerdings das Bistum Münster sich in seinem Schutzkonzept vor allem auf sexuellen Missbrauch fokussiert, greift den junikum-Verantwortlichen nicht weit genug. „Das ist zu kurz gedacht“, findet Britta Kleine. Gewalt und Missbrauch können viele Formen haben.
Übergriffe als Unrecht erkennen
Dabei ist die Jugendhilfe von heute freilich eine andere, als die vor vierzig Jahren. „Das beginnt schon damit, dass früher Kinder oft sehr lange in den Einrichtungen waren, durchaus auch mal zwölf Jahre. Heute sind es im Normalfall maximal zwei Jahre“, erläutert junikum-Geschäftsführer Thomas Kurth.
Prävention und Intervention sind die Pfeiler des Schutzkonzeptes. Eines der Hauptschlagworte ist im Bereich der Prävention der »Grenzachtende Umgang«. Hinter dem sperrigen Begriff verbergen sich Handlungsempfehlungen vom richtigen Wickeln eines Kleinkindes über das Anklopfen am Zimmer eines Kindes, bevor ein Erzieher es betritt, bis zu dem Punkt, dass die Erzieher das richtige Maß zwischen Nähe und Distanz wahren – und einem Kind auch mal sagen müssen, dass etwas nicht geht, weil sie nicht die leiblichen Eltern sind. Dazu gehört aber auch, dass Kinder auch ungestraft Nein sagen dürfen, dass sie lernen, Grenzverletzungen und Übergriffe als Unrecht zu erkennen und sich auch trauen, diese zu thematisieren. „Kinder und Jugendliche und ihre Eltern können sich immer beschweren, wenn etwas ihrer Meinung nach nicht gut gelaufen ist“, sagt Britta Kleine. Bei junikum-Mitarbeitern oder der Geschäftsführung, aber auch beim Jugendamt oder der Ombudschaft der Jugendhilfe. Jedes Kind hat die Kontaktdaten auf seinem Zimmer.
In den Wohngruppen wird im Drei-Schicht-System im Doppeldienst gearbeitet, auch um Überforderung bei den Mitarbeitern zu verhindern. Der Erzieher ist doch einmal zu laut geworden? „Wichtig ist ein Begegnen auf Augenhöhe. Auch die Erzieher geben den Kindern gegenüber Fehler zu, entschuldigen sich auch bei den Kindern“, erklärt Kleine.
Ein Kollege bevorzugt ein Kind im besonderen Maß oder spricht mit einem Jugendlichen immer zu laut? Den Mitarbeitern werde der Mut gegeben, ihre Kollegen auf ein mögliches Fehlverhalten anzusprechen. Man setzt auf Transparenz und lückenlose Protokollierung, um möglichst wenig Platz für Fehlverhalten zu geben. Daher wurde auch jede Wohnform einer Risikoanalyse unterworfen, um Schwachstellen zu erkennen.
„Opfern von Gewalt wird unvoreingenommen geglaubt.“
Gleichzeitig sollen sich die Mitarbeiter aber nicht unter Generalverdacht fühlen. „Auch müssen wir Mitarbeiter vor falschen Anschuldigungen schützen“, sagt Kleine. „Trotzdem nehmen wir jede Anschuldigung eines Kindes ernst, auch die 15., denn bei der 16. könnte wirklich etwas passiert sein. Opfern von Gewalt wird unvoreingenommen geglaubt.“ Wird ein Mitarbeiter von einem Kind oder Jugendlichen beispielsweise des sexuellen Missbrauchs bezichtigt, „raten wir immer zur Selbstanzeige, damit der Sachverhalt von offizieller Behördenseite aufgeklärt wird“, erläutert junikum-Geschäftsführer Thomas Kurth. Die Kinder sollen sich im junikum sicher fühlen – die Mitarbeiter aber auch.